Die heutige Wanderung führt von Rougemont nach Gstaad. Der Himmel ist wolkenverhangen und es wird sicherlich bald zu schneien beginnen. Zu dritt beginnen wir die Schneewanderung in Rougemont. Eine Person, die mich beim Laufen begleitet, ist mein Sohn, der mir mit seiner nicht wirklich funktionalen Kleidung fast den letzten Nerv raubt. Seine Schuhe bestehen aus einem leichten Turnschuh und als Mantel trägt er eher eine Jacke, die man für einen Stadt-Shoppingbummel anziehen würde als für eine Winterwanderung. Wenn ich ihn so anschaue, bin ich kurz vor dem Erfrieren. Zudem überlege ich mir, wie schnell seine Füsse nass sein werden – igitt. Loslassen heisst jetzt mein Motto. Er kann selbst entscheiden, was für ihn stimmt. Seine Devise lautet heute wohl «wer schön sein will, muss leiden» und dies muss ich jetzt einfach akzeptieren.
Anstatt zu jammern, könnte ich die ganze Angelegenheit doch auch ins Positive wenden. Er kommt mit auf eine Winterwanderung, während andere das Skifahren bevorzugen. Er ist bereit mit uns durch den Schnee zu laufen und mit uns über Gott und die Welt zu diskutieren. Das ist doch etwas Wunderbares.
Unsere Wanderung beginnt beim Bahnhof Rougemont und schon nach einigen Metern kommt es zu einem steilen Abstieg. Da wir auf der schneebedeckten Strasse laufen, ist dies schon einmal eine Herausforderung für turnschuhtragende Jugendliche. Als wir unten ankommen, beginnt ein wunderschöner Winterwanderweg entlang der Saane. Oftmals ist man von Bäumen umgeben und wenn die Tannen voller Schnee sind, kann es auch einmal vorkommen, dass plötzlich ein Schwall weisses Pulver auf dem Kopf oder im Nacken landet. Während wir durch die weisse Samtlandschaft laufen, begegnen wir zu Beginn unseres Abenteuers drei Schlittenhund-Gespannen. Das erste hat an der Front vier Hunde, die ziehen. Das zweite Gespann besteht aus zwei Hunden und das dritte aus zwei Hunden und einer Skifahrerin. Das sind lustige und faszinierende Eindrücke, schliesslich sehe ich das nicht jeden Tag. Daher bleibe ich stehen und bestaune die Szene, die sich vor mir auftut.
Es geht weiter dem Fluss entlang und wir besprechen die Veränderung, die sich vor kurzer Zeit bei der zweiten Begleitperson ergeben hat. Entscheidungen zu treffen, gehört tagtäglich zum Leben. Entscheidungen, die einem schwer fallen, verschieben wir gerne ein bisschen, damit wir die Verantwortung für die Handlung noch nicht übernehmen müssen. Auch eine Entscheidung, die wir aufschieben oder nicht treffen, ist eine Entscheidung - nämlich die Entscheidung, alles beim Alten zu belassen. Ich finde es immer wieder spannend, wenn Menschen erzählen, dass sie eigentlich schon lange gespürt haben, dass eine Veränderung die beste Variante ist – aber das Loslassen noch Mühe bereitet. Dies kann eine Arbeit sein, die einem die Luft nimmt, oder ein Wohnungswechsel, der viele Vorteile bringen würde, der Beginn einer Weiterbildung, die schon lange auf der ToDo-Liste steht, oder auch das Beenden einer Freundschaft oder Partnerschaft. Aber es ist immer schwer, Entscheidungen zu fällen, die in die sogenannte Leere führen könnten. Der Job ist weg und ich weiss noch nicht, was mich danach erwartet. Ich weiss noch nicht, wie ich meinen Lebensunterhalt verdiene. Aber es ist trotzdem die einzig richtige Entscheidung, die jedoch ein bisschen Zeit brauchte, bis sie gereift ist. Jede Entscheidung, die Unsicherheiten mit sich bringt, ist ein Prozess und irgendwann ist der Zeitpunkt da und man ist so weit und kann den Weg gehen, den das Herz schon längst erkannt hat – welch Befreiung.
Während wir laufen beginnt es immer heftiger zu schneien. Die Schneeflocken tanzen vom Himmel und in mir wachsen Glücksgefühle. Wie lange ist es her, als ich dieses Naturereignis das letzte Mal so erleben durfte? Für mich als Winterkind ist es immer mit Leichtigkeit verbunden, wenn ich durch den Schnee tanzen kann oder mich irgendwo in die weisse Pracht legen kann und Schneeflocken mit dem Mund fangen darf. So tanzen sie also vom Himmel und verzaubern die Landschaft von Sekunde zu Sekunde.
Mein Sohn verlässt uns in Saanen und geht dort auf den Zug. Ich vermute eine Unterkühlung der Füsse – natürlich nur eine Vermutung. Zu zweit und mit gutem Schuhwerk laufen wir noch eine Stunde weiter bis nach Gstaad.